Cover
Titel
Der Interviewer Günter Gaus. Politischer Anspruch und Authentizität im Fernsehen der jungen Bundesrepublik


Autor(en)
Holz, Benjamin
Reihe
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag: Medienwissenschaft
Anzahl Seiten
102 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Birkner, Abteilung Journalistik, Paris Lodron Universität Salzburg

Die vielleicht vielsagendste Szene seiner unzähligen Interviews hat Günter Gaus in seiner Autobiografie von 2004 auf Seite 200 erzählt1: Konrad Adenauer, Anfang 1966 bereits 90 Jahre alt, schon seit drei Jahren nicht mehr Kanzler und ein „Greis“, wie Gaus ihn hier nennt, hat mitten im Gespräch einen richtigen Blackout. Den kurzen Moment der Bewusstlosigkeit, eine halbe Minute – „eine tödlich lange Zeit im Fernsehen“ – habe man anschließend entgegen der eigenen Regeln ausnahmsweise herausgeschnitten. Und Gaus fragt medienkritisch: „Kann ich mit Gewißheit sagen, daß auch heutzutage kein Fernsehsender sich fände, der gerade diese Passage als Anreißer in der Programmvorschau benutzen würde?“ Nun, es würden einem heute wohl jede Menge Medien einfallen, die einen solchen Moment genüsslich verbreiten würden.

Diese Szene erwähnt Benjamin Holz in seiner an der Hochschule Magdeburg-Stendal entstandenen Untersuchung des Interviewers Günter Gaus allerdings gar nicht, obschon sie viel über Respekt und Fairness von Gaus erzählt und der erste Kanzler der Bundesrepublik in seinem Werk durchaus eine zentrale Rolle spielt. Das Porträt von Günter Gaus gleich zu Beginn des schmalen Bandes basiert weitgehend auf der eingangs zitierten, sehr lesenswerten Autobiografie „Widersprüche“ von Gaus. Das kurze Kapitel zu Konrad Adenauer weist überdies ein paar Belege aus dem ebenfalls sehr lesenswerten Buch „Konsens und Krise“ von Christina von Hodenberg von 2006 auf. Insgesamt ist die Literaturliste recht dünn und doch gelingt Holz eine anschauliche Beschreibung der Neuordnung des westdeutschen Mediensystems nach 1945, das zum „Ökosystem“ von Günter Gaus werden sollte.

Zunächst einmal ist es ganz generell positiv hervorzuheben, wenn sich Studierende während oder zum Ende des Studiums in ihren (Abschluss?)Arbeiten mit dem Medienensemble der Nachkriegszeit, der 1960er-Jahre sowie seiner Protagonist:innen befassen und so herausragende Journalisten wie Günter Gaus in den Blick nehmen. Dabei ist für den Autor Benjamin Holz insbesondere der Fragesteller Günter Gaus im Fernsehen interessant, nicht so sehr der Spiegel-(Chef)Redakteur oder der erste Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland (BRD) in Ost-Berlin.

Zu Beginn geht Holz auf die Prägung von Gaus als Kind und Jugendlicher in der Zeit des Nationalsozialismus ein, einschließlich der Lehren, die dieser daraus gezogen hat. Er lässt ihn aus seiner Autobiografie zu jenen Jahren zu Wort kommen und ordnet ihn, Jahrgang 1929, als „waschechte[n]“ 45er ein (S. 6). Er folgt damit der Generationeneinteilung von Christina von Hodenberg, die die „45er Generation“ als jene versteht, die sich „hin zum Leitbild der westlichen Demokratien“2 orientiert habe (S. 31) und dann in den 1950er- und 1960er-Jahren frischen Wind in die deutschen Medienredaktionen bringen sollte.

Dem Autor geht es nun darum, zu zeigen, wie sich dies in seinen berühmten Fernsehinterviews niederschlägt. Er entwickelt eine „To-do-Liste“ der „45er“ (S. 40), die „mit Günter Gaus‘ Überzeugung nahezu deckungsgleich“ sei (S. 42). Dazu habe gehört, die „journalistische Praxis an westlichen Demokratien orientieren“ (S. 40), die „Gesellschaft erziehen“ und einen „Regierungswechsel von der CDU zur SPD initiieren“ (S. 41). Leider geht Holz hier nicht direkt auf den Widerspruch zwischen der journalistischen Praxis in westlichen Demokratien und dem politischen Ziel des Regierungswechsels ein – dabei nennt er als Aufgaben der öffentlich-rechtlichen Medien „Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit“ (S. 20). Auch der Widerspruch zwischen dem Ansinnen, die Gesellschaft erziehen zu wollen und Gaus‘ zuvor zitierter Ablehnung genau dessen, wird hier nicht aufgegriffen: Die Aufforderung, doch ein Pädagoge sein zu müssen, ziele „an dem, was ich sein muß als Journalist, ganz und gar“ vorbei (S. 17, siehe auch S. 73). Diese Widersprüche müssten hier gar nicht aufgelöst werden, immerhin heißt die Gaussche Autobiografie ja „Widersprüche“, aber sie hätten deutlicher gemacht werden können. Holz bringt sie erst später auf den Punkt, indem er die „45er“ zwischen den „Kriegskindern“, den nach Christina von Hodenberg zwischen 1900 und 1920 Geborenen, und den „68ern“ positioniert und argumentiert, die Generation von Gaus „teilte den pädagogischen Massenerziehungsauftrag der Älteren und den demokratisch-motivierten Antifaschismus der Jüngeren“ (S. 65).

Wenn es dann um die Interviewreihe „Zur Person“/„Zu Protokoll“ im Konkreten geht, stellt Holz eingangs die Frage: „Nutzte Günter Gaus seine Interviewpartner als Sprachrohr, um seinen eigenen politischen Wegweisern Rückenwind zu verleihen“? (S. 43) Und tatsächlich glaubt er auf den folgenden Seiten etwa bei einem Interview mit Willy Brandt 1964 folgende Beobachtung machen zu können: „Die Fragestellung entpuppt sich in Brandts Antwort als effektive SPD-Werbung.“ (S. 47) Mal ganz abgesehen davon, dass die Antwort von Brandt gar nicht zu lesen ist, sondern nur die Frage von Gaus: Hier wird konstruiert, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, SPD-Kanzlerkandidat und SPD-Vorsitzender schaffe es dank der "genial formulierten Fragen und psychologischen Tricks" (wie es im Klappentext heißt) eines Günter Gaus, Werbung für die eigene Partei zu machen. Dabei ist doch vielmehr die lebensweltliche Beobachtung, dass es Politiker:innen völlig unabhängig von der Frage – ja geradezu in völliger Ignoranz des Inhalts einer journalistischen Frage – gelingt, Werbung für die eigene Partei zu machen.

In den Augen von Holz bekommt Gaus auch Helmut Schmidt 1966 dazu, positiv über seine Partei zu sprechen: „Mit seiner Ausgangsfrage und zielstrebiger Nachfrage bewirkte Günter Gaus, dass der Interviewte über die Nachteile der CDU und zuvor über die Vorteile der SPD sprach.“ (S. 50) Die Schlussfolgerung, Günter Gaus habe mit seinen Fragen bewirkt, dass sich der SPD-Politiker Helmut Schmidt positiv über die eigene Partei und negativ über den politischen Gegner äußert, muss man nicht teilen. Man stelle sich heutzutage eine Laudatio für einen Journalist:innenpreis vor, in der Caren Miosga dafür gefeiert wird, dass sie mit ihren Fragen Christian Lindner dazu gebracht habe, die Vorzüge der FDP zu betonen.

Wenn es Gaus darum gegangen ist, die SPD besonders gut und die CDU besonders schlecht aussehen zu lassen, um den Regierungswechsel zu initiieren, dann ist a) die Beweisführung etwas dünn und dann passt das b) nicht zum eingangs über Gaus geäußertem Diktum: „Gaus stellt Vernunft immer vor Gesinnung.“ (S. 1) Und es passt auch nicht zur „45er Generation“, die ja gerade den deutschen Gesinnungsjournalismus überwinden und sich stärker am westlichen Journalismus orientieren wollte, mit seiner klaren Trennung von Information und Meinung sowie seinem Bestreben um Objektivität. Das waren die Markenzeichen des amerikanischen Journalismus vor Fox News, Trump und Twitter, der damals weltweite Strahlkraft besaß.

Holz selbst schreibt, die „Beeinflussung der öffentlichen Meinung – galt es zu überwinden“ (S. 16) und: „Die traditionelle Auffassung, Publizisten hätten die öffentliche Meinung zu beeinflussen, sollte abgelegt werden.“ (S. 17) Hierin liegt der eigentliche Widerspruch in der Gausschen Interviewführung nach Holz, auch wenn er es nicht so klar ausformuliert. Gaus blieb Gesinnungsjournalist. Das Bemühen um Objektivität hörte in der Darstellung von Holz auf, wo die parteipolitische Überzeugung begann. Ob das aus freien Stücken geschah oder weil die Zeitläufte ihn vermeintlich dazu zwang, das bleibt eine spannende Frage für die zukünftige Journalismusgeschichtsforschung, inklusive einer Neuverhandlung der Begriffe Objektivität, Überparteilichkeit, Haltung und Fairness. Holz hat hierfür trotz der geäußerten Kritik einen wichtigen Beitrag geleistet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Günter Gaus, Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen, München 2004.
2 Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006.

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